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Für die Stärkung der Mindestsicherung braucht es eine verbindliche EU-Rahmenrichtlinie!

Bewertung der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur „Stärkung der Mindestsicherung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der Covid-19-Pandemie und darüber hinaus“, vom 9. Oktober 2020.

 

Am 9. Oktober 2020 hat der Rat der Europäischen Union Schlussfolgerungen für die Stärkung der Mindestsicherung angenommen, um Armut und soziale Ausgrenzung  in der Corona-Pandemie und darüber hinaus zu bekämpfen. Ein Entwurf für die Ratsschlussfolgerungen wurde im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft von der Bundesregierung bereits am 2. Juli vorgelegt.

 

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben in vielerlei Hinsicht gravierende Konsequenzen für die Menschen. Vor allem benachteiligte Personengruppen sind in besonderer Weise durch die Krise und ihre Folgen betroffen und werden in existenzielle Notlagen gedrängt. Hinzu kommt die steigende Arbeitslosigkeit, welche mit der Corona-Pandemie einhergeht.

 

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie zeigen zudem deutlich, dass effiziente Stabilisierungsinstrumente benötigt werden, um konjunktur- und krisenbedingte Ungleichgewichte innerhalb der EU abzufedern. Nicht alle Mindestsicherungssysteme der Mitgliedstaaten bieten einen ausreichenden Schutz vor Armut und sozialer Ausgrenzung. Armut wird folglich häufig nur unzureichend bekämpft.

 

Was steht in den Schlussfolgerungen des Rates?

Mit Blick auf die wirtschaftliche und soziale Auswirkung der Corona-Pandemie und der darüber hinaus hohen Anzahl an Personen, die in der EU von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, erkennt der Rat in seinen Schlussfolgerungen an, dass Mindestsicherungsregelungen, in Verbindung mit aktivierenden und befähigenden Maßnahmen, eine wichtige Rolle bei der Reduzierung der Armut und sozialen Ausgrenzung spielen. Aus Sicht des Rates dienen sie zudem als Stabilisierungsmechanismus, durch den die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen angekurbelt wird. Sie weisen darauf hin, dass Investitionen in soziale Sicherungssysteme zur sozioökonomischen Resilienz, zur Entwicklung des Humankapitals und zur Chancengleichheit beitragen, insbesondere für Kinder. 

 

Mit den Schlussfolgerungen erkennt der Rat zudem an, dass die bisherigen Strategien zur Armutsreduzierung und die vorhandenen europäischen Rechtsakte im Bereich der Mindestsicherung nicht dazu geführt haben, die Armut und soziale Ausgrenzung substanziell zu reduzieren. In diesem Zusammenhang wird die unzureichende Umsetzung der EU-Zielsetzung genannt, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen bis 2020 um 20 Millionen Personen zu reduzieren. Hervorgehoben werden zudem die Empfehlung 92/441/EWG des Rates über die gemeinsame Kriterien für ausreichende Zuwendungen und Leistungen im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung sowie die Empfehlung 2008/867/EG der EU-Kommission zur aktiven Eingliederung von aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen.

 

Für einen wirksamen Schutz durch die Mindestsicherung bedarf es laut der Schlussfolgerungen der Anwendung von drei Grundsätzen: 

  • Zugänglichkeit: Basierend auf dem Grundsatz der Universalität sollten bedürftige Personen das Recht auf Zugang zu Leistungen zu nichtdiskriminierenden und umfassenden Bedingungen haben. Der Zugang zu und die Inanspruchnahme von Leistungen sollte in der Praxis sichergestellt werden, unter anderem durch vereinfachte Antragsverfahren und die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen.
  • Angemessenheit: Basierend auf dem Grundsatz eines menschenwürdigen Lebens sollten die Grundbedürfnisse durch Mindestsicherungsleistungen in angemessener Weise gedeckt werden, wobei der Lebensstandard und das Preisniveau oder die nationalen Armutsgrenzen in dem betreffenden Mitgliedstaat zu berücksichtigen sind. Die Bedürfnisse sollten durch die Anwendung einheitlicher und transparenter Methoden bewertet werden; die Anpassung der Leistungen sollte regelmäßig erfolgen und an geeignete Indikatoren geknüpft sein. Die Zusammensetzung des Haushalts und spezifische individuelle Bedürfnisse, wie z.B. Behinderung, Kinderbetreuung oder Langzeitpflege, sollten angemessen berücksichtigt werden.
  • Aktivierende Aspekte: Basierend auf dem Grundsatz der aktiven Inklusion sollte die Mindestsicherung die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen befähigenden Dienstleistungen beinhalten. Für diejenigen, die arbeiten können, sollten Arbeitsanreize und angemessene aktive arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Vermittlung und Ausbildung geboten werden. Eine breite Palette sozialer Dienste wie Beratung, einschließlich Rechtsberatung und Informationen über verfügbare Unterstützung und angemessene Hilfe sollten die Programme ergänzen, um sicherzustellen, dass sie allen Menschen wirksam zugutekommen und Unterstützung bieten.

 

Bewertung

Die Auswirkungen der Corona-Krise und das vielfach hohe Armutsrisiko in der EU zeigen, dass starke Mindestsicherungssysteme benötigt werden, um wirtschaftliche und soziale Ungleichgewichte abzufedern und die Menschen vor Armut zu schützen. Der AWO Bundesverband begrüßt daher die Schlussfolgerungen des Rates. Diese formulieren die wichtigen Grundsätze der Zugänglichkeit, Angemessenheit und Befähigung, welche für starke Mindestsicherungssysteme notwendig sind, und erkennen die Notwendigkeit von entsprechenden Systemen zur Armutsbekämpfung und Krisenbewältigung an.

 

Zwar sind die Schlussfolgerungen rechtlich unverbindlich, sie schaffen jedoch eine politische Verpflichtung und zeigen, dass ein politischer Konsens über europäische Grundsätze für die soziale Mindestsicherung auf europäischer Ebene möglich ist.

 

Positiv bewertet die AWO, dass die Mitgliedstaaten anstreben sollen, die vorhandenen Empfehlungen im Bereich der Mindestsicherung umzusetzen und die Zivilgesellschaft, Sozialpartner*innen und Menschen mit Armutserfahrung in die Entwicklung, Weiterentwicklung und Implementierung von Systemen der Mindestsicherung miteinzubeziehen.

 

Darüber hinaus begrüßt die AWO, dass der Rat in seinen Schlussfolgerungen die Mitgliedstaaten und die EU-Kommission dazu aufruft, die Europäische Säule Sozialer Rechte umzusetzen und die Lücken in der Mindestsicherung zu schließen. Aus Sicht der AWO sind die Schlussfolgerungen ein wichtiger Schritt zur Umsetzung des Grundsatzes 14 der Säule. Dieser besagt: „Jede Person, die nicht über ausreichende Mittel verfügt, hat in jedem Lebensabschnitt das Recht auf angemessene Mindesteinkommensleistungen, die ein würdevolles Leben ermöglichen, und einen wirksamen Zugang zu dafür erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Für diejenigen, die in der Lage sind zu arbeiten, sollten Mindesteinkommensleistungen mit Anreizen zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsmarkt kombiniert werden“. Damit dieser Grundsatz einen spürbaren Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten kann, braucht es jedoch einen verbindlichen Rechtsakt für die Stärkung der Mindestsicherung.

 

Zudem sollen die Unterstützungsleistungen aus EU-Fonds wie dem Europäischen Sozialfonds Plus (ESF+) und dem Aufbauinstrument „Next Generation EU“ bestmöglich für die Förderung der sozialen Integration, der Arbeitsmarktbeteiligung und zur Armutsbekämpfung genutzt werden. Dies ist zu unterstützen. Die Europäischen Struktur- und Investitionsfonds investieren direkt in Menschen und sind bestens dafür geeignet, den sozioökonomischen Folgen der Corona-Krise entgegenzuwirken und Menschen in prekären Lebenslagen zu helfen.

 

Des Weiteren wird in den Schlussfolgerungen die EU-Kommission ersucht, die vorhandenen europäischen Rechtsakte im Bereich der Mindestsicherung weiterzuentwickeln, um die Mitgliedstaaten im Bereich der nationalen Mindestsicherung zu unterstützen und zu ergänzen. Die AWO hat sich an dieser Stelle mehr Mut gewünscht. Denn es liegen wissenschaftliche Gutachten vor, die im bestehenden Primärrecht der EU sehr wohl Rechtsgrundlagen für die Einführung einer EU-Rahmenrichtlinie erkennen. Bestärkt werden diese Stimmen durch den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der eine EU-Rahmenrichtlinie als konkrete Initiative für die Stärkung der Mindestsicherung empfiehlt.

 

Schlussbemerkungen und abschließende Erwartungen

Die AWO setzt sich für eine EU-Rahmenrichtlinie mit Grundsätzen für soziale Mindestsicherungssysteme ein. Verbindliche Grundsätze würden einen wichtigen Schritt hin zu einer Angleichung der Sozialsysteme darstellen, die wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichte abfedern, die Chancengleichheit und Teilhabe fördern und den sozialen Zusammenhalt stärken. Damit würde auch ein konkreter Beitrag zur Umsetzung der Europäischen Säule Sozialer Rechte geleistet werden und das Unionsziel des sozialen Fortschritts, welches in Art. 3 Abs. 3 EUV festgeschrieben ist, mit Leben gefüllt werden.

 

Die Schlussfolgerungen sind ein wichtiger Schritt hin zu einer EU-Rahmenrichtlinie. Jedoch wurde die Chance nicht genutzt, sich für einen verbindlichen Rechtsakt einzusetzen.    

 

Die AWO richtet daher ihre Erwartung an die EU-Kommission. Damit die Schlussfolgerungen keine Absichtserklärungen bleiben, erwartet die AWO, dass die Kommission die Initiative ergreift und einen Vorschlag für eine EU-Rahmenrichtlinie mit Grundsätzen für die soziale Mindestsicherung zeitnah vorlegt. Die Schlussfolgerungen sowie die vorhandenen europäischen Rechtsakte zur Mindestsicherung müssen dabei als Grundlage dienen.

 

Der Blick liegt dabei auch auf den Mitgliedstaaten, welche die Notwendigkeit der Schaffung einer EU-Rahmenrichtlinie mit Grundsätzen für nationale Mindestsicherungssysteme anerkennen und sich aktiv dafür einsetzen müssen. Wichtig ist dabei, dass die EU-Ratspräsidentschaften Portugals und Sloweniens im ersten und zweiten Halbjahr 2021 die Schaffung einer EU-Rahmenrichtlinie weiter vorantreiben.

 

Gleichzeitig ist die europäische Zivilgesellschaft gefragt, sich an der gegenwärtigen und zukünftigen Diskussion zu einer EU-Rahmenrichtlinie zu beteiligen und sich für deren Schaffung einzusetzen.

 

 

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