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Für das Recht auf Entscheidung

Von: Sarah Clasen

 

Den Kampf für reproduktive Rechte führte schon AWO-Gründerin Marie Juchacz. Auch fast 100 Jahre später ist er noch lange nicht entschieden.

„Daß wir die Sexualnot unserer Zeit, besonders aber der Geburtenfrage, nicht tatenlos gegenüberstehen wollen, ist selbstverständlich (…). Bei jeder Betrachtung müssen wir doch immer den ungeheuren Leidenszug der 800.000 Frauen, die alle Schmerzen körperlicher und seelischer Art, die die dauernde Gefährdung ihrer Gesundheit, ja Tod und Gefängnis auf sich nehmen, um dem Schicksal unerwünschte Mutterschaft zu entgehen, sehen.“ (Juchacz, 1929)

Das Recht, selber darüber zu entscheiden, ob und wie viele Kinder ein Mensch im Laufe des Lebens bekommen möchte, gehörte schon zu Gründungszeiten der Arbeiterwohlfahrt zu den zentralen frauenpolitischen Pfeilern des Verbandes. So beschäftigte sich Marie Juchacz in ihrem 1929 erschienenen Artikel „Geburtenfrage – Sexualberatung eine Aufgabe der Arbeiterwohlfahrt“ mit den enorm hohen Abbruchszahlen der damaligen Zeit und zog daraus den Schluss, dass die Arbeiterwohlfahrt präventiv tätig werden und Information und Aufklärung zum Thema Verhütungsmittel anbieten müsse. Neben dem bundespolitischen Einsatz für die Streichung des §218/219 StGB galt ihr besonderes Augenmerkt der direkten Unterstützung und Beratung von Frauen und Paaren.

In den letzten hundert Jahren haben sich viele Dinge im Bereich der reproduktiven Rechte zum Besseren entwickelt.

So stehen der geschätzten Zahl von 800.000 bis einer Million Abbrüchen 1929 heute 100.968 Abbrüche im Jahr 2018 gegenüber, vorgenommen in ambulanten oder stationären Einrichtungen. 96,2% dieser Abbrüche fielen unter die sogenannte Beratungsregel, d.h. der Schwangerschaftsabbruch fand innerhalb der ersten 12 Wochen nach Empfängnis statt und ihm voraus ging eine Pflichtberatung in einer staatlich anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle sowie eine dreitägige Wartezeit. Weiterhin hat in Deutschland jeder Mann und jede Frau einen im Schwangerschaftskonfliktgesetz verankerten Rechtsanspruch auf Beratung bei Fragen rund um Sexualität, Familienplanung und Schwangerschaft. Die Abbruchszahlen sind also deutlich zurückgegangen und Frauen und Männer haben bundesweite Anlaufstellen, in denen sie kostenfrei und anonym qualifizierte Beratung erhalten können.

Also alles gut? Würde Marie Juchacz diesen Teil der frauenpolitischen Arbeit der AWO als erledigt betrachten?

Keineswegs! Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland sind nach wie vor über den §218/219 StGB geregelt. Dieser Paragraph wurde 1871 ins Strafgesetzbuch aufgenommen und steht 148 Jahre später immer noch dort. Schwangerschaftsabbrüche sind gesetzlich einsortiert unter der Überschrift „Straftaten gegen das Leben“ und kommen in der Systematik nach Mord und Totschlag. Nach vielen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den §218/219a StGB, vor allem im Zuge der Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre sowie der Wiedervereinigung, wurde 1995 das bis heute gültige „Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz“ eingeführt. In diesem ist geregelt, dass ein Schwangerschaftsabbruch zwar grundsätzlich rechtswidrig ist, in den ersten zwölf Wochen nach Empfängnis und nach Inanspruchnahme einer Beratung sowie einer dreitägigen Wartezeit aber straffrei durchgeführt werden darf. Jedes Bundesland hat weiterhin dafür zu sorgen, dass ein angemessenes Angebot an Ärzt*innen und Einrichtungen vorgehalten wird, die Abbrüche vornehmen. Die Formel, die dem Paragraphen zugrunde liegt, lautet im Grunde genommen also: Jede Frau darf innerhalb eines bestimmtes Rahmens eine Schwangerschaft abbrechen, aber sie kann diese Entscheidung a) nicht eigenständig treffen und muss daher beraten werden und b) begeht sie immer noch eine Straftat, entscheidet sich also für einen Weg, der moralisch zu verurteilen ist.

Neben dieser moralischen Grundhaltung, die zu einem Klima des Schweigens führt, da Frauen aus Angst vor Stigmatisierung selten über ihre Abtreibungen sprechen, gibt es in Deutschland inzwischen ein reales Versorgungsproblem, da immer weniger  Ärzt*innen Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Zum einen gehen viele frauenpolitisch bewegte Ärzt*innen in den Ruhestand und haben Nachfolger*innen die diese medizinische Dienstleistung nicht vorhalten. Zum anderen nutzen Abtreibungsgegner*innen vermehrt den §219a StGB (dem Verbot für Ärzt*innen, öffentlich darüber zu informieren, mit welchen Methoden sie Abbrüche anbieten), um Ärzt*innen wg. vermeintlichem Verstoßes anzuzeigen. Dies führt auch zu einem Rückzug von Ärzt*innen aus diesem Tätigkeitsfeld. Frauen müssen daher mitunter in einigen Gegenden Deutschlands bis zu 150km weit fahren, um eine unerwünschte Schwangerschaft innerhalb der Beratungsfrist abzubrechen! Bspw. fanden 27,5% aller Schwangerschaftsabbrüche von Frauen aus Rheinland-Pfalz 2017 in einem anderen Bundesland statt.

Was nun also tun?

Die Arbeiterwohlfahrt fordert seit ihrer Gründung die Streichung des §218/219a und setzt sich dafür auf Bundesebene kontinuierlich ein.

„Es geht nicht so, dass wir die ganze Angelegenheit nur vom Standpunkt des die Arbeiterfrauen besonders bedrohenden Strafrechts aus sehen und in der Öffentlichkeit behandeln. Es gibt außer den berüchtigten §§218/219 noch sehr viele andere Dinge zu sagen.“ (Juchacz 1929, S. 731).

Ganz im Sinne Marie Juchacz setzt sich die AWO neben der Forderung nach Streichung des §218/219 StGB für ein flächendeckendes Angebot an qualifizierter, psychosozialer Beratung im Bereich Sexualität, Familienplanung und Schwangerschaft  ein – aber nicht im Rahmen einer Pflichtberatung, sondern freiwillig. Voraussetzung für eine selbstbestimmte Familienplanung ist neben dem Recht auf Abtreibung ebenso die Frage der Kostenübernahme für einkommensarme Frauen. Damit Verhütung nicht eine Frage des Geldbeutels bleibt und im schlimmsten Fall ganz darauf verzichtet wird, setzt sich die AWO dafür ein, dass im Rahmen einer bundesgesetzlichen Regelung Verhütungsmittel für einkommensarme Menschen übernommen werden.

Frauen sind in der Lage, selber über ihre Zukunft und vor allem, ob und wann diese Kinder beinhaltet, zu entscheiden. Dieser Grundgedanke leitet seit 1919 sowohl die frauenpolitische Arbeit des Verbandes als auch die Arbeit in den Schwangerschaftsberatungsstellen der AWO bundesweit.

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